Warum die grosse Empörung über die zur Unzeit angebotenen Früchtchen?
Eine kleine Geschichte über Moral und Heuchelei. Warum die grosse Empörung über die zur Unzeit angebotenen Früchtchen? Eine kleine Geschichte über Moral und Heuchelei. Drei Dinge sind im Frühjahr so sicher wie das Amen in der Kirche. Erstens: Der Osterhase kommt. Zweitens: Lange vor ihm stehen schon die Erdbeeren in den Regalen der Grossverteiler. Drittens: Heerscharen von Facebook-Freunden regen sich in emotionalen Postsüber die Erdbeeren auf, als hätten diese mindestens Donald Trump ins Amt gehievt und für Volkswagen die Abgasmessungen manipuliert.
An zur Unzeit angebotenen Erdbeeren entzündet sich der Volks zorn derart heftig, dass man die roten Früchtchen in den Arm nehmen und ihnen zuflüstern möchte: Seid nicht traurig, liebe Erdbeerchen, die Wut der Welt trifft allzu oft die Falschen.
Natürlich ist es Quatsch, jetzt Erdbeeren zu kaufen. Nicht zuletzt aus kulinarischen Gründen. Sie sind – um einen alten Kalauer von Otto zu adaptieren – der vierte Aggregatzustand von Wasser und schmecken entsprechend nach fast nichts. Unser Selbstversuch hat bei spanischen Bio-Erdbeeren einen Wert von 2,5 auf der Skala von 1 bis 10 er geben. Wer sie kauft, ist mit dem säuerlichen Aroma schon genug gestraft, es braucht nicht auch noch den Schlag mit der Moralkeule auf den Hinterkopf.
Basilikum aus Südafrika
Zumal ich wetten würde, dass die meisten Chefankläger in Sachen Erdbeeren gar nicht wissen, welchen ökologischen Unfug sie sich beim gedankenlosen Einkauf im Supermarkt so ins Körbchen legen. Mein kurzer Streifzug hat ergeben: Basilikum aus Südafrika, Salbei aus Israel, Zitronengras aus Thailand, Grapefruits aus den USA und so weiter. Alles sauber deklariert.
Von den Südfrüchten aus Vietnam, Brasilien und Peru will ich erst gar nicht reden, auch nicht von den dortigen Arbeitsbedingungen, die im Fall der Erdbeeren ja zu Recht kritisiert werden. Wie die Erdbeeren kommen unter anderem auch Mini-Lattich, Spinat, Zucchini, Orangen aus Spanien, allesamt übrigens mit dem Biolabel versehen. Und wer im Sommer Äpfel kauft, sollte wissen: Die stammen aus Neuseeland oder Chile.
«Rational ist der Ärger über die Erdbeeren nicht. Sie sind wie Spargel halt eine sehr emotionale Angelegenheit, man kennt sie aus dem eigenen Garten. Aber wenn sie keiner kaufen würde, stünden sie auch nicht in den Regalen», sagt Tiziano Marinello vom gleichnamigen Früchte- und Gemüsegrosshändler. Im Winter se i nun einmal ein Grossteil der Frischware importiert. Für ihn privat seien Erdbeeren erst dann eine Option, wenn sie aus Norditalien kämen. «250 Kilometer sind eine Distanz, mit der ich leben kann.»
Whataboutism? Blödsinn!
Aber sprechen wir doch noch kurz über unsere geliebten Elektronikgeräte: Sie werden, wie wir alle wissen, nicht von Unschuldslämmern aus Moos und Flechten gestrickt, sondern enthalten Metalle, die unter unwürdigen Bedingungen in Drittweltländern aus der Erde geholt werden. Haben die Erdbeer-Moralisten deswegen keine Laptops und Smartphones? Das aber wäre ein echter Verzicht – und ein Beweis, dass man es ernst meint mit der Moral. Keine sauren Erdbeeren zu essen, kann man ja nicht wirklich als Opfer gelten lassen.
Die Argumentationsschiene mit den Smartphones ist «Whataboutism» (eine neudeutsche Bezeichnung für Hinweise auf andere Missstände während einer Diskussion)? Ist sie nicht! Schliesslich geht es hier nicht um den unbestrittenen Fakt, dass man jetzt noch keine Erdbeeren essen sollte. Es geht um das Phänomen, dass man mit geradezu missionarischem Eifer in die Pfanne gehauen wird, wenn man im Frühling Erdbeeren kauft oder verkauft. Von Leuten, die sich mit Verweis auf ihr Essverhalten auf einen moralischen Sockel stellen wollen. Den Whataboutism-Begriff zu bemühen, ist hier die Waffe der rhetorisch Minderbemittelten.
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